FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Montag, 12. Oktober 2020, Nr. 237

FREMDE FEDERN: MICHAEL VESPER

Keine politischen Proteste im Stadion!

Die zum Himmel gereckten, schwarz behandschuhten Fäuste von John Carlos und Tommie Smith bei der Siegerehrung für den 200-Meter-Lauf in Mexiko 1968 sind bis heute einer der prägnanten Momente der olympischen Geschichte. Deshalb wird daran im Olympischen Museum in Lausanne erinnert. Zum Modell taugen sie nicht. Die überragende Wirkung der Geste beruht auf ihrer Erstmaligkeit und offensiven Kühnheit. Die beiden haben damals bewusst gegen die Regel verstoßen und sind dafür auch bestraft worden.

Diese Regel – keine politischen Demonstrationen in der Sportarena – gilt immer noch. Sie ist allerdings in argumentative Bedrängnis geraten. Es handle sich, heißt es in der Sport- und Medienwelt, um einen Maulkorb. Den hingen die Sportverbände, allen voran das Internationale Olympische Komitee, den Athleten um und hinderten sie daran, öffentlich gegen Missstände zu protestieren. Die Olympische Charta, das Grundgesetz des Sports, bestimmt nämlich in ihrer Regel 50, Absatz 2, dass an den olympischen Stätten, insbesondere den Austragungsorten, Demonstrationen und jegliche „politische, religiöse oder rassistische Propaganda“ unzulässig sind.

Diese Bestimmung soll die Athleten und den sportlichen Wettbewerb schützen. Er – und nicht politische Statements – soll im Mittelpunkt der Olympischen Spiele stehen. Beim größten Sportfest der Welt messen sich Spitzenathleten aus 206 Nationen im friedlichen und fairen Wettkampf – auch wenn ihre Länder Konflikte mit anderen haben. Mehr als 10 000 junge Menschen kommen da zusammen, arm und reich, Profis und Amateure, aus verschiedenen Kulturen und politischen Systemen. Demokratien sind dabei, aber auch Staaten mit autoritärem Regime und einer Gesellschaftsordnung, die mit unseren Vorstellungen von Freiheit und Toleranz wenig zu tun hat. Sie alle verbindet die Begeisterung für den Sport, der wechselseitige Respekt und der Traum, bei Olympia erfolgreich zu sein.

Werden die Athleten durch Regel 50 politisch mundtot gemacht? Keineswegs. Sie alle haben selbstverständlich das Recht, ihre Meinung zu äußern, auch als prominente Sportler. Die Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, sind reichlich. Neben traditionellen analogen Kanälen, neben Talkshows und Pressekonferenzen stehen die Resonanzräume der digitalen Welt zur Verfügung. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird im Grundgesetz garantiert und ist Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der auch der Sport verpflichtet ist.

Allerdings gilt dieses Recht, wie alle Rechte, nicht uneingeschränkt und nicht an jedem denkbaren Ort. Auf der Bühne eines Theaters kann der Schauspieler nicht einfach ein Plakat hoch halten oder das Publikum, das die Aufführung sehen möchte, mit seiner politischen Meinung behelligen – gern vorher oder nachher auf einer Pressekonferenz, aber nicht während der Vorstellung. Auch im Deutschen Bundestag sind Demonstrationen nicht zulässig. Wer ihn besucht und Debatten im Plenarsaal verfolgen will, darf an diesem Ort und bei dieser Gelegenheit seine politische Meinung nicht laut äußern. Er darf sie haben, natürlich, aber er darf sie nicht in die Debatte hineinrufen oder per Transparent zum Ausdruck bringen.

Es geht hier nicht um rechtliche Formalien. Eine Öffnung der Stadien für politische Demonstrationen wäre für den Sport überaus riskant, und zwar gerade deshalb, weil er eine enorme Vorbildwirkung, eine starke inspirative Kraft entwickelt. Wenn ein Torhüter sich vor den Zug wirft, diskutiert das ganze Land über die verborgene Krankheit der Depression. Ein schwuler Nationalspieler, der sich outet, tut mehr für den Abbau von Vorurteilen als viele Appelle. Reichweite und Wirk-Macht des Spitzensports machen ihn als Vehikel für alle möglichen Anliegen attraktiv. Wer ein politisches Statement bei einem sportlichen Großereignis plaziert, kann auf ein Millionen-Publikum – bei Olympischen Spielen sind es sogar Milliarden – setzen.

Die Freigabe einer solchen Nutzung wäre indes fatal. Nicht nur, weil damit die eigentliche Hauptsache Sport zur Nebensache zu werden drohte. Sondern vor allem auch, weil zwangsläufig Tür und Tor geöffnet würden für Botschaften und Kampagnen, denen wir auf keinen Fall den großen Auftritt ermöglichen sollten. Das nämlich wird von den „Maulkorb“- Kritikern gern ausgeblendet: Der Verzicht auf Regel 50 würde nicht nur denen eine Bühne verschaffen, die sich für hehre Ziele wie Gleichberechtigung, den Kampf gegen Rassismus und Homophobie oder den Schutz von Minderheiten einsetzen.

Das sind Anliegen, denen jedenfalls in den westlichen Demokratien eine Mehrheit Beifall zollen würde. Aber was wäre, wenn ein russischer Sportler allergisch reagierte auf eine westliche Kritik an Präsident Putin und auf seinem T-Shirt einen Schriftzug unterbrächte, mit dem die Vergiftung von Aleksej Nawalnyj Deutschland zugeschrieben wird? Was, wenn jemand auf die Idee käme, im Stadion gegen den Völkermord an den Armeniern zu protestieren und damit eine wie auch immer geartete Antwort nach dem Geschmack des türkischen Präsidenten Erdogan provozierte? Es gibt weltweit zahlreiche ernste Konflikte zwischen Staaten: Wollen wir wirklich, dass sie auch auf dem Sportplatz ausgetragen werden? Es entstünde ein Anreiz zu immer spektakuläreren Formen des Protestes, zu einer jeweils noch stärkeren Reaktion der Gegenseite. Was man dem einen erlaubt, kann man dem anderen nicht versagen. Zu glauben, dies ließe sich inhaltlich kanalisieren, ist naiv. Man bräuchte dazu ein Gremium umfassender Oberaufsicht, das über die Zulassung der einen und die Ablehnung der anderen Meinungsäußerung zu entscheiden hätte. Dergleichen gelingt nicht einmal den UN, wie soll der Sport das schaffen?

Nein, die Verbannung politischer Meinungsbekundungen aus der Sportarena muss Bestand haben – trotz durchaus schmerzlicher Konsequenzen. Auch eine so begründete und verdienstvolle Initiative wie die des Football-Quarterbacks Colin Kaepernick, der aus Protest gegen Rassismus während des Abspielens der Nationalhymne niederkniete, ist nach Regel 50 tabu und muss es bleiben, bei aller Sympathie für den couragierten Athleten.

Ein grundsätzliches Zeichen gegen Rassismus zu setzen, indem man wie die Europäische Fußball-Union einen ganzen Spieltag unter dieses Motto stellt, ist selbstverständlich gut und richtig. Ebenso das Bekenntnis der Olympischen Charta gegen „jede Form von Diskriminierung aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Gründen“. Diese politischen Statements gelten universell, sie bilden die Wertegrundlage des Sports. Einzelne, kontroverse Forderungen auf dem Platz, in der Halle, im Becken sind jedoch weder im Interesse der Sportler noch des Publikums. Damit würde die große Bühne, an der die Zuschauer wegen sportlicher Leistungen, nicht wegen politischer Meinungen interessiert sind, missbraucht. Der sportliche Wettkampf würde vom Wettstreit um die politische Lufthoheit im Stadion überschattet. Zudem würde den Athleten durch eine solche Auseinandersetzung der Moment genommen, auf den sie jahrelang hingearbeitet haben. Das verhindert Regel 50 – kein Maulkorb, sondern ein sinnvoller Schutz der Athleten.

Der Autor ist Gründungsmitglied der Grünen, Minister a. D., Berater des Internationalen OlympischenKomitees, war von 2006 bis 2017 Vorstandsvorsitzender des Deutschen Olympischen Sportbundes und ist seit 2018 Präsident von Deutscher Galopp. (Foto dpa)

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