100 JAHRE NACH NAZI-SPIELEN: „Olympia 2036 wäre ein wuchtiger Kontrapunkt“

VON MICHAEL VESPER,  Quelle: F.A.Z. https://www.faz.net

Olympia 2036 in Deutschland – genau 100 Jahre nach den Nazi-Spielen? Dem DOSB-Präsidenten fehlt die „Phantasie“ für solch ein Welt-Sportfest. Michael Vesper sieht das anders. Ein Gastbeitrag.

Dem Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Alfons Hörmann, fehlt mit Blick auf die Nazi-Spiele 1936 die „Phantasie“ für das Welt-Sportfest 100 Jahre später in Deutschland. Sein früherer Vorstandsvorsitzender im DOSB sieht dagegen eine Chance „für uns alle“.

Im Februar hat das Internationale Olympische Komitee (IOC), zu diesem Zeitpunkt überraschend, eine Vorentscheidung über den Ausrichter der Olympischen Spiele 2032 getroffen. Zunächst will es das Angebot der australischen Stadt Brisbane prüfen. Andere Interessenten sollen bis auf weiteres – und vermutlich definitiv – nicht zum Zuge kommen. Das betrifft auch die von Michael Mronz in Gang gesetzte und organisierte Initiative, sich mit der Metropolregion Rhein Ruhr City als Austragungsort zu bewerben. Der privat entwickelte Plan wird von vielen Kommunen und der NRW-Landesregierung unterstützt. Obwohl vom DOSB noch nicht offiziell angemeldet, ist er auch in Gesprächen mit dem IOC auf Sympathie gestoßen.

Damit steht die Frage im Raum, ob sich die NRW-Kandidatur um vier Jahre verschieben ließe. Kann sich der deutsche Sport mit Rhein Ruhr City als Veranstalter für 2036 bewerben? Dagegen wird vor allem ein Bedenken geltend gemacht: Das Datum verbiete sich wegen der historischen Hypothek durch die Berliner Spiele von 1936. Doch das Argument ist nicht stichhaltig. Dass der NS-Staat Olympia für seine Propaganda missbrauchte, spricht eher dafür als dagegen, sie hundert Jahre danach wieder auf deutschem Boden stattfinden zu lassen.

Seit Pierre de Coubertin vor gut 125 Jahren die aus der Antike stammende Idee Olympischer Spiele für die Neuzeit wiederbelebte, fanden diese zweimal in Deutschland statt: 1936 in Berlin (mit den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen) und 1972 in München. Die Ersteren gingen als „Nazi-Spiele“ in die Olympische Geschichte ein; der drei Jahre später von Deutschland begonnene Weltkrieg sorgte dafür, dass die nächsten beiden Ausgaben ausfielen. Erst zwölf Jahre später kam die Jugend der Welt wieder zusammen, in London und ohne deutsche Beteiligung.

Olympia in München markierte in doppelter Hinsicht einen Wendepunkt: Geplant und begonnen als „heitere Spiele“, wurden sie durch das Attentat eines palästinensischen Kommandos zugleich zum Fanal des internationalen Terrorismus. Und trotzdem glänzt München in der olympischen Erzählung bis heute als ein Paradebeispiel für Effizienz und Nachhaltigkeit. Die Welt bekam ein neues Deutschland zu sehen, liberal und fröhlich, die Spiele wurden zum Symbol des gelungenen Neuanfangs nach Krieg und Nazi-Diktatur.

München als „Weltstadt mit Herz“

Dass die Spiele nur 36 Jahre nach 1936 wieder nach Deutschland kamen, hatte in der öffentlichen Diskussion auf dem Weg dorthin kaum eine Rolle gespielt. Die Bewerbung hatte Erfolg, weil der damalige Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), Willi Daume, sie unbedingt wollte und im internationalen Sport vehement dafür warb. Er überzeugte die bayerische Landeshauptstadt unter Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und auch die Bundesregierung.

Diese zeigte sich bereit, trotz der politischen Vorbehalte gegen die DDR und ihr NOK den olympischen Gastgeber für sie zu spielen. Wie alle Teams traten die DDR-Athleten in der Bundesrepublik als Repräsentanten eines eigenen Staates auf. Die Stadt München wurde endgültig zur „Weltstadt mit Herz“ und profitierte nachhaltig, vor allem durch die durchgreifende Verbesserung der Infrastruktur: U- und S-Bahnen wurden ausgebaut, das Olympische Dorf schuf ein neues Wohngebiet, und das Olympiagelände ist bis heute einer der meistbesuchten europäischen Parks.

Alle späteren Anläufe, die Spiele ein drittes Mal nach Deutschland zu holen, blieben erfolglos. Berlin 2000 und Leipzig 2012 scheiterten kläglich. München wollte die erste Stadt werden, die nach den Sommer- auch die Winterspiele veranstaltete, verlor aber für 2018 die Abstimmung im IOC mit 25 zu 63 Stimmen gegen Pyeongchang, dann für 2022 den Bürgerentscheid mit 48 gegen 52 Prozent. Mit dem nahezu gleichen Ergebnis entschieden sich später die Hamburger gegen eine Bewerbung für 2024.

Die jüngste Initiative hat einen neuen Ansatz zu bieten mit einer klaren Vision: Olympische und Paralympische Spiele finden in einer multikulturell geprägten Region statt, die dabei ist, einen grundlegenden Strukturwandel zu bewältigen, von der alten Schornstein-Industrie von Kohle und Stahl hin zu einer Wissens- und Kulturwirtschaft. Rhein Ruhr City präsentiert sich zudem als eine Sportregion, die für nahezu das gesamte olympische Programm nicht nur die „Hardware“ in Form von Arenen und Plätzen bereits vorhält, so dass nur wenig neu zu bauen ist, sondern die auch über die ebenso wichtige „Software“ verfügt, nämlich eine breitgefächerte, nicht auf einige wenige Sportarten beschränkte Sportbegeisterung der Bevölkerung.

Doch die Spiele an Rhein und Ruhr könnten noch eine weitere Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte von der friedlichen Entwicklung Deutschlands, vom gedeihlichen Miteinander der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kulturen. Nichts anderes ist Inhalt der olympischen Grundidee. Die Erzählung wäre mithin das Gegenteil dessen, was die Nationalsozialisten aus den – vor ihrer Machtergreifung an Deutschland vergebenen – Spielen machen wollten, nämlich eine Reklameschau faschistischer Ideologie. Mit Wucht den Kontrapunkt zu setzen kann das entscheidende Momentum für die Spiele hundert Jahre danach sein.

Eine Aufgabe und eine Chance

Mehr als in München 1972 würde das Jubiläum die Aufmerksamkeit auf die Frage richten, was aus dem Land geworden ist, das damals die Spiele zur Geisel seines nationalistischen Wahns nahm: ein verlässlich anderes Gemeinwesen, ein wirtschaftlich starkes Land, das seine Identität nicht auf Abgrenzung und Unterordnung, auf Rassismus und Menschenverachtung baut, sondern Zuwanderer integriert und international Verantwortung übernimmt; das den Übergang von der analogen in die digitale Gesellschaft bewerkstelligt; das seine Wirtschaft umpolt von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen auf Schonung der Lebensgrundlagen. Und das vor allem der Welt ein menschliches Gesicht zeigt.

Diese Geschichte zu erzählen ist eine Aufgabe und eine Chance – für NRW, für uns alle in Deutschland, aber auch für die Olympische Bewegung insgesamt. Wir sollten alles daransetzen, sie zu nutzen. Die Jahreszahl ist dabei nicht Hindernis, sondern Hilfestellung und Auftrag.

Der Autor ist Gründungsmitglied der Grünen, war stellvertretender Ministerpräsident von NRW, steht dem Verband Deutscher Galopp vor und berät das IOC.

Foto: Jan Künzel, via Wikimedia Commons