Quelle: EXPRESS, Sonntag, 18. April 2021

Union und SPD müssen zittern

Im Kanzleramt saßen bisher nur CDU- oder SPD-Politiker. Das könnte sich jetzt ändern.

Annalena Baerbock oder Robert Habeck? Am Montag soll klar sein, wer von den beiden Parteichefs die Kanzlerkandidatur der Grünen übernimmt. Unabhängig davon, wie die Entscheidung ausfallen wird: Eines wird sechs Monate vor der Bundestagswahl immer wahrscheinlicher: Ein grüner Kanzler bzw. eine grüne Kanzlerin ist kein Hirngespinst mehr.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ist nicht mehr in Stein gemeißelt, dass Union oder SPD den Kanzler oder die Kanzlerin stellen werden.

Der Höhenflug: Im Bund und auch in NRW sind die Grünen laut Umfragen mit Abstand inzwischen die zweitstärkste politische Kraft. Entsprechend selbstbewusst treten sie auf: Sie haben das Ziel, bei der Bundestagswahl am 26. September die Union als stärkste Kraft abzulösen, für die die Luft immer dünner wird. Mit dem peinlichen Gerangel um die Pole-Position bei der Kanzlerkandidatur hat sie sich zudem bis auf die Knochen blamiert. Stand jetzt, sind Koalitionen jenseits von CDU/CS durchaus denkbar – auch unter Führung der Grünen.

Sind die Grünen kanzlertauglich? Als sie 1980 gegründet wurden, war das Kanzleramt meilenweit entfernt. Und heute? Michael Vesper (69), Gründungsmitglied der Partei und von 1995 bis 2005 Minister und Vize- Ministerpräsident in der ersten von Johannes Rau und den weiteren von Wolfgang Clement und Peer Steinbrück geführten rot-grünen NRW Regierungen, sagt dem Sonntag-EXPRESS: „Immerhin war die Ausgangslage für uns Grüne noch nie so gut wie jetzt. Es stimmt einfach alles: Unser Gründungsthema, die Ökologie, ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wir haben zwei fähige Vorsitzende, die sich nicht gegeneinander profilieren, sondern gemeinsam begeistert für grüne Politik eintreten, und wir haben gelernt, dass innerparteilicher Streit kontraproduktiv ist. Die Menschen wollen Klarheit, Charisma und Disziplin – alles drei haben wir.“

Das Erfolgs-Duo: In ihren drei Jahren an der Spitze haben Annalena Baerbock (40) und Robert Habeck (51) mit Teamgeist ihre Partei stark gemacht – mit einer gesunden Portion Pragmatismus und Realpolitik, die früher nicht denkbare Koalitionsoptionen möglich machen.

Was ist anders als früher? Zur Frage, ob die Partei heute eine andere als die ist, die er aus seiner aktiven Zeit kennt, sagt Michael Vesper: „Klar haben wir uns weiterentwickelt. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Eine Regierungsbeteiligung ist heute – anders als in den 90er-Jahren – in NRW, nicht mehr umstritten: Ja, wir wollen mit gestalten, unsere Ideen umsetzen, wir sind fähig und bereit, dabei auch vernünftige Kompromisse einzugehen.“

Bleibt die Harmonie? Vesper ist da optimistisch: „Die beiden und alle Mitstreiter wissen, worauf es ankommt: nicht auf persönliche Eitelkeiten, sondern auf mannschaftliche Geschlossenheit.“ Die aktuelle Stimmung zeigt, dass der Kurs stimmt.

Welche Fehler sollte die Partei vermeiden, damit es so bleibt? Vesper rät: „Bitte nicht auf den Super-Umfragen ausruhen und nicht überheblich werden. Bei aller politischen Leidenschaft und Überzeugung die Menschen weder belehren noch ihnen vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben. Aber ich sehe da aktuell keinerlei Gefahr.“

 

express-18-04-2021